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Der Rosenthaler

Interview mit Dr. Jan Stöß

Berlin

Interview mit dem Vorsitzenden des SPD-Landesverbandes Berlin
Dr. Jan Stöß

Herr Dr. Stöß, Sie sind jetzt seit etwas mehr als neun Monaten Landesvorsitzender der SPD. Angesichts der einen oder anderen Hiobsbotschaft in Berlin: Haben Sie es schon bereut?
Überhaupt nicht. Es ist ganz spannend, welche Gestaltungsmöglichkeiten dieses Amt bietet. Und ich bin sehr zufrieden, dass wir schon einige Themen nach vorne bringen konnten.

Franz Müntefering hat einmal gesagt, das Amt des SPD-Parteivorsitzenden sei das schönste nach dem des Papstes. Haben Sie eine Analogie für Berlin?
(Lacht) Ja, also dann würde sich der Kardinal anbieten, oder? Ich bin zwar katholisch getauft, aber so richtig habe ich es mit dem Klerus nicht.
Vielleicht ist dies die richtige Antwort: Es ist das schönste Amt überhaupt!

In dem Papier „Berlin – Stadt des Aufschwungs“ ist von der „Weltmetropole Berlin“ die Rede. Wie viel davon ist Realität und wie viel ist Wunschdenken?
Da ist eine ganze Menge Realität. Wer in Berlin lebt, spürt natürlich viel von den Problemen, die es hier durchaus gibt. Aber sobald man woanders hinkommt und sagt, man komme aus Berlin, blickt man in leuchtende Augen. Das zeigt die große Strahlkraft Berlins. In der Welt wird Berlin in jedem Fall als aufregende Metropole wahrgenommen.
Und wir sind auch eine echte Weltstadt, denn Menschen aus der ganzen Welt leben in unseren Kiezen. Das gilt natürlich auch und gerade für Mitte.

Berlin galt in den 20er Jahren, trotz Wirtschaftskrise und teils sehr schwieriger Umstände, auf einigen Gebieten als weltweit führend. Haben Sie den Anspruch, zumindest wieder führend in Deutschland zu werden?
Den Anspruch sollten wir haben. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, immer auf den hinteren Plätzen zu stehen bei den Beschäftigtenzahlen oder bei allen möglichen Bildungsvergleichen. Und die Voraussetzungen dafür sind günstig. Wir haben derzeit eine sehr positive Wirtschaftentwicklung. Alleine im letzten Jahr haben wir 35.000 neue Jobs geschaffen, und jedes Jahr kommen 40.000 Leute neu in die Stadt. Wenn wir jetzt die Weichen richtig stellen, stehen wir vor neuen goldenen 20er Jahren.

Schön, dass sie zumindest den Anspruch formulieren. Den haben wir nämlich in den letzten Jahren vermisst. Bringen die 40.000 Neuen eigentlich auch Probleme?
Dieses Wachstum bringt in der Tat große Herausforderungen mit sich. Vor allem natürlich beim Wohnungsbau, aber auch bei der sozialen Infrastruktur. Denn vielfach sind das Zuwanderer mit Kindern. Deshalb brauchen wir auch zusätzliche Schulen, Kitas, Freizeiteinrichtungen und am Ende muss natürlich auch die Verwaltung in der Stadt entsprechend mitwachsen.

Bedeutet das: Neueinstellungen nach jahrelangem Einstellungsstop im Öffentlichen Dienst?
In wenigen Jahren, ab 2017, scheidet ein Drittel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus. Also müssen und werden wir auch wieder beginnen, neu einzustellen. Darüber, wie das am effektivsten und sinnvollsten geschieht, wird man sich jetzt schon Gedanken machen müssen.

Verwaltung ist ein gutes Stichwort. Gibt es im Landesvorstand der SPD oder speziell bei Ihnen Überlegungen, die Struktur der Bezirksfinanzen deutlich zu ändern?
Wir beraten gerade den kommenden Doppelhaushalt des Landes. Ich glaube nicht, dass wir dort schon grundlegende Strukturveränderungen vornehmen werden.
Mittelfristig werden wir uns jedoch einige Punkte ansehen müssen, die aus meiner Sicht nicht mehr zeitgemäß sind.

Nennen Sie uns ein Beispiel.
Es müssen die richtigen Anreize gesetzt werden, auch das richtige zu tun. Zurzeit haben die Bezirke überhaupt nichts davon, wenn sie Gewerbeansiedlungen voranbringen. Zum einen gehen die Einnahmen aus der Einkommenssteuer an Land und Bund, zum anderen müssen sie gleichzeitig eine neue Infrastruktur aufbauen, um den Bevölkerungswachstum zu stemmen.

Wie beurteilen Sie die Qualität der Berliner Verwaltung?
Aus Erfahrung weiß ich, dass die Verwaltung in vielen Bereichen deutlich besser ist als ihr Ruf. Wir haben aber auch noch Bereiche, die dringend verstärkt werden müssen. So dauert beispielsweise die Festsetzung eines Bebauungsplanes in einigen Bezirken durchschnittlich elf Jahre. Da braucht man sich keine Gedanken darüber zu machen, warum es mit dem Wohnungsbau nicht voran geht.

Das klingt für uns nach Verwaltungsreformen.
Richtig. Das ist ja ein stetiger Prozess, der allerdings in der Vergangenheit etwas zum Erliegen gekommen ist. Die große Herausforderung wird jetzt sein, neues, motiviertes und qualifiziertes Personal zu gewinnen.
Auf einer Skala von 1-10: Wie beurteilen Sie den Erfolg der innerstädtischen Wiedervereinigung?
Ich glaube, dass wir noch nicht die volle Punktzahl erreicht haben, deshalb gebe ich eine 8.
Aber es ist auch unübersehbar, vor allem in den Vereinigungsbezirken Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, wie in der Stadt bereits vieles nahtlos zusammengewachsen ist.

Was läuft noch nicht so gut?
Negativ würde ich es gar nicht formulieren. Es bestehen eben Unterschiede, die aber auch den Reiz Berlins ausmachen. Wenn ich als Landesvorsitzender nach Zehlendorf komme oder nach Hellersdorf-Nord, merke ich tatsächlich noch Unterschiede, die sind aber vielleicht geringer als zwischen Innenstadt und Stadtrand, egal ob Ost oder West.

Wenn wir außerhalb Berlins unterwegs sind, werden wir immer häufiger auf die Probleme in Berlin angesprochen und was hier so alles schief geht. Fürchten Sie einen Imageverlust?
Ich finde, es ist ein mitunter ziemliches provinzielles Verhalten, wenn sich jetzt vor allem in den alten Bundesländern über Berlin lustig gemacht wird. Da scheint man sich an der Hauptstadt etwas abarbeiten zu wollen. Aber das können wir als Metropole gelassen ertragen.
Die Tatsache, dass Menschen aus aller Welt hierher kommen, sei es als Besucher oder Einwanderer, beweist doch die hohe Attraktivität Berlins. Und ehrlich gesagt: Dass Berlin eine großartige Stadt ist, daran ändert auch der verschobene Flughafenstart nichts.

Der wird irgendwann ja auch fertig.
Ja

In dem Papier wird auch die gezielte Förderung der Industrie genannt. Wie realistisch sehen Sie es, dass hier in spürbaren Umfängen Industrie noch mal angesiedelt werden kann?
Wir haben dafür in der Region ganz hervorragende Bedingungen. Kürzlich war ich bei Bombardier zu Besuch. Die entwickeln und bauen Schienenfahrzeuge auf höchstem Niveau für den internationalen Markt. Genausoh Stadler in Pankow. Oder nach wie vor Siemens, die in Berlin die hochentwickelten und besten Gasturbinen der Welt bauen.
Oder Berlin-Chemie. Die haben ein bahnbrechendes Medikament entwickelt, mit dem Diabetiker des Typs II nicht mehr spritzen müssen, sondern den Wirkstoff in Tablettenform einnehmen können. In Berlin entwickelt und in Berlin hergestellt. Solche Unternehme knüpfen an die große Tradition der pharmakologischen Forschung dieser Stadt an.

Da kommen Sie ja richtig ins schwärmen
Ja, das stimmt. Es ist absolut beeindruckend, welche Potentiale es dort gibt.

Ist Ihre persönliche Euphorie in der SPD genauso verankert?
Absolut. Wir sind eine Arbeiterpartei, in deren DNA es angelegt ist, Arbeitsplätze zu schaffen. Und nicht nur solche für Akademiker. Wir sind darauf, wenn in unserer so großartige Produkte hergestellt werden.

In den Rankings europäischer Wirtschaftsstandorte macht Berlin große Sprünge nach oben und zählt in der Regel zu den Top-Five. Welche Gründe sehen Sie hierfür?
Einer der entscheidenden Gründe: Weil man nach Berlin das dafür benötigte Personal bekommt. Denn gerade hochqualifizierte Fachkräfte kommen begeistert in die Stadt, um hier zu arbeiten. Selbst einige Weltmarktführer in Süddeutschland haben da im Vergleich zusehends Schwierigkeiten.

Eine der wichtigsten Wirtschaftsbranchen in Berlin ist der Tourismus, der jährlich um zweistellige Prozentraten wächst. Sehen Sie Grenzen oder geht’s immer weiter? In Kreuzberg gab’s ja schon die ersten Proteste
Dass wir jetzt über 25 Millionen Übernachtungen haben, ist schon ein Ausweis davon, welche Bedeutung Berlin international hat. Gleichzeitig müssen wir natürlich auch aufpassen, dass die Innenstadt ihren Charakter nicht dadurch verliert, dass es dort nur noch Hotels und touristenorientierte Gastronomie gibt. Es geht auch darum, dass der Tourismus bei den Berlinern weiter akzeptiert wird. Meine Sorge hält sich jedoch in Grenzen, denn aus der Berliner Mitte wird nie eine Puppenstube werden. Dafür ist die Stadt zu vielfältig und vielleicht manchmal auch zu widerborstig.

Eines Ihrer wichtigsten Themen ist die Wohnungspolitik: Kann man überhaupt ernsthaft Einfluss nehmen?
Natürlich ist es wichtig, dass die SPD die Bundestagswahl gewinnt, damit wir endlich die Kappungsgrenze bei Neuvermietungen anziehen können.

Was bedeutet das?
Mehr als 10 % über der ortsüblichen Vergleichsmiete ist nicht - auch nicht, wenn man einen neuen Mietvertrag unterschreibt.

Das alleine dürfte kaum ausreichen, oder?
Wichtig ist, auch wenn neu gebaut wird, dass eine gesunde und funktionierende Mischung entsteht. Wenn fast ausschließlich nur Private bauen, so wie es zurzeit der Fall ist, und mehr oder weniger nur Luxuslofts neu entstehen, führt das zu in die Höhe schießenden Vergleichsmieten. Und das eben auch bei allen, die schon lange dort wohnen. Deshalb ist es wichtig, Wohnungsneubau auch für mittlere und Geringverdiener umzusetzen. Nur so wird der Wohnungsbau nicht als Verschärfung des Problems, sondern als Lösung des Mietenproblems Erfolg haben.

Also sprechen Sie sich für den Wiedereinstieg in den öffentlichen Wohnungsbau aus?
Unbedingt.

Wie einig sind Sie in dieser Frage mittlerweile mit dem zuständigen Senator Müller?
Ich finde es gut, dass es seit der Neubildung des Senats zu einer anderen Linie in der Mietenpolitik gekommen ist. Ich unterstütze Michael Müller insbesondere bei den Bemühungen, den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften Druck zu machen, im bezahlbaren Segment neue Wohnungen bauen. Übrigens auch in der Innenstadt.
Es ist auch gut und richtig, dass wir den landeseigenen Wohnungsgesellschaften die Kreditlinien öffnen, um diese großen und jetzt nötigen Projekte auch zu finanzieren. Bisher war die Vorgabe an die Gesellschaften: ‚Ihr sollt nach Möglichkeit gar keine Kredite aufnehmen, sondern ordentlich Rendite erwirtschaften.’ Diese Zeiten sind eben vorbei. Auch wenn es damals auch richtig war, die Verschuldung bei den Wohnungsbaugesellschaften zurück zu führen, haben wir jetzt eine veränderte Situation, die veränderte Antworten erfordert.

Kommen wir mal zur Historischen Mitte und zu den noch bevorstehenden städtebaulichen Herausforderungen. Vielleicht zeichnen Sie mal in groben Zügen, was Sie sich vorstellen und was Sie ausschließen.
Ich glaube, dass wir in der Tat auch über Möglichkeiten zur Neubebauung in der Historischen Mitte nachdenken müssen. Ich bin nicht Anhänger einer historischen Rekonstruktion dessen, was es dort einmal gab. Das würde wohl an diesem Ort nicht mehr passen. Aber ich glaube auch nicht, dass mit der dort jetzt vorhandenen städtebaulichen Struktur schon der Endzustand an Urbanität erreicht ist, den Berlin sich vornehmen könnte. Und deshalb wäre es toll, wenn wir dort auch großartige Architektur ermöglichen, die Berlin in den letzten 20 Jahren zum Teil leider oft vorenthalten worden ist.

Würden Sie das Marx-Engels-Forum bebauen oder freilassen?
Die Frage wird sich spätestens stellen, wenn das Schloss fertig ist. Dort sind weder Schnellschüsse angebracht noch sollten wir den aktuellen Zustand zementieren. Das Nachdenken über die Mitte der Stadt ist eben mit dem Wiederaufbau des Schlosses noch nicht vorbei.

Sind die Diskussionen um solche Orte ein Ost-West-Thema?
Das glaube ich nicht. Denn ob man einen tollen städtischen Platz erleben kann oder nicht, hat nichts damit zu tun, ob man aus Ost oder West kommt.

Warum wohnen Sie nicht in Mitte?
(Lacht) Ha, ich habe bereits in Charlottenburg, in Schöneberg und in Kreuzberg gewohnt und jetzt wohne ich wieder in Schöneberg. Vielleicht ist eines Tages auch noch mal Mitte dran. Ich will aber Niemandem Angst machen.

Wenn Sie nach Mitte kommen, dann aber bitte in die Rosenthaler Vorstadt. Darauf müssen wir bestehen.
Sie haben doch schon so viele Würdenträger, sind Sie wahnsinnig?

Wir wollen sie alle. Haben Sie Favoriten-Orte in der Rosenthaler Vorstadt?
Natürlich das Deutsche Theater. Einer meiner besten Freunde kommt zurück nach Berlin und geht dann in das Ensemble des DT.

Was macht Ihr persönliches Lebensgefühl für Berlin aus?
Das Faszinierende an Berlin ist wirklich, dass es so unterschiedlich ist. Dass da Ost und West zusammenkommt, dass man Menschen aus der ganzen Welt in der Stadt treffen kann und dass die Stadt überhaupt nicht spießig ist.

Außer in Wilmersdorf.
Selbst die Wilmersdorfer Witwen sind wahrscheinlich toleranter als jede andere Oma in Deutschland.
Mir gefällt im Übrigen manchmal auch das Unfertige, das nicht Perfekte. Das macht das besondere an Berlin aus.

Sie sind ja, so wie wir, ein Zugezogener. Fühlen Sie trotzdem als Berliner?
Berliner ist man ja, sobald man sich zur Stadt bekennt - und das ist auch das Tolle an Berlin: offen und überhaupt nicht snobistisch. Die Stadt nimmt einen schnell und mit offenen Armen auf. Ich bin seit 1996 hier und finde es jeden Tag wieder großartig!

Was finden Sie so richtig doof?
(Denkt lange, sehr lange nach) Ehrlich gesagt: So ganz viel fällt mir da gar nicht ein.

Wie bewegen Sie sich in der Stadt fort, wenn Sie nicht U-Bahn fahren? Mit dem Fahrrad oder dem Auto?
Ich habe gar kein Auto.

Haben Sie das manchmal auch, an irgendwelchen Stellen, Plätzen, Orten, auch wenn es sich um sogenannte Hot Spots handelt, dass Sie denken: Hier bist Du richtig, hier gehörst Du hin?
Ja! Als ich Bezirksstadtrat in Friedrichshain-Kreuzberg war und jeden Morgen von Kreuzberg mit dem Fahrrad über die Oberbaumbrücke zum Rathaus Friedrichshain gefahren bin. Das war und ist immer noch ein tolles Gefühl, vor allem, wenn man sich klar macht: Hier ist man früher nicht rübergekommen!
Jetzt sieht man über die Spree auf diese großartige Stadt. Wenn das dann alles noch in der Morgensonne liegt, dann weiß man, dass man alles richtig gemacht hat. Und das ist in der Tat auch was ganz besonderes an Berlin: Bei einem eigentlich kommunalpolitischem Konflikt, ob eine Baugenehmigung gilt oder nicht, kommt plötzlich David Hasselhoff und singt – das gibt’s eben nur hier.

Haben Sie ein Update für „arm aber sexy“?
Wow, da muss man etwas länger drüber nachdenken. Die Antwort gibt’s beim nächsten Interview.

Herr Dr. Stöß, es war uns ein großes Vergnügen!

Das Interview führten Kai Mühlstädt und Sascha Wendling

 
 

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