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Der Rosenthaler

Das WIR entscheidet

Politik

Eine historische Premiere: Zum ersten Mal entscheidet die Basis einer Partei über einen Koalitionsvertrag. Die rund 475.000 Mitglieder der SPD stimmen darüber ab, ob der Koalitionsvertrag akzeptiert und Grundlage einer gemeinsamen Koalition mit CDU und CSU werden soll.

Überall finden in der SPD derzeit Veranstaltungen statt, in denen intensiv diskutiert wird – über Inhalte, über Strategien und das mögliche Ergebnis, das niemand so richtig einschätzen kann. Die Medien tappen ebenso im Dunklen wie die Demoskopen – es herrscht so etwas wie ein unbeeinflusster demokratischer Urzustand.

Das Interesse ist groß, nach nur einer Woche hatten schon 200.000 Mitglieder abgestimmt, das zeigt, wie gut diese Form der Entscheidungsfindung ankommt. Auch die Mitgliederforen der SPD sind gut besucht, weit über 500 Berliner SPDler trafen sich am Mittwoch vergangener Woche beim Berliner Mitgliederforum mit der stellvertretenden Parteivorsitzenden Manuela Schwesig und führten eine sehr offene Debatte. SPD-Landesvorsitzender Jan Stöß bekannte sein „Ja“ zum Vertrag, weil in ihm viel enthalten sei, was die Berliner SPD nach der Wahl und vor Eintritt in die Sondierungen gefordert habe.

Inhalte zählen – nicht Personen
Nach den einführenden Reden gab es ausführliche Fürs und Widers – und wer nach dem Beifall für die einzelnen Redner urteilen wollte, konnte Mehrheiten nur schwer ausmachen. Aber es fiel auf: Kaum je ist ein Koalitionsvertrag so intensiv gelesen und diskutiert worden. Und: Personalien spielten keine Rolle – Ressortverteilung und das schöne Spielchen „Wer wird was“ waren nur am Rande Thema. Die Inhalte standen tatsächlich im Brennpunkt der Diskussion und die Frage, ob genügend inhaltliche Punkte enthalten seien, die einen Eintritt der SPD als kleineren Partner in die „GroKo“ rechtfertigten. Es war aber nicht nur die altbekannte Diskussion des halbvollen oder halbleeren Glases, sondern auch Überlegungen darüber, wie man aus einer solchen Konstellation wieder herauskommen kann, ohne weiter geschwächt zu werden. Die Erfahrungen der letzten Großen Koalition 2005-2009 wurden von einigen Rednern schmerzhaft erinnert.

Die SPD-Mitglieder in Mitte waren einen Tag darauf ebenfalls zu einem Mitgliederforum geladen, um über die Große Koalition und den Vertrag zu beraten. Mit der Wahlkreisabgeordneten Eva Högl war exklusive Information gesichert, gehörte sie doch der Verhandlungskommission und einzelnen Arbeitsgruppen an.

Högl stimmt für den Vertrag
Die wiedergewählte Abgeordnete begrüßt das Mitgliedervotum und erlebt es durchweg positiv. Die durch das ZDF-Interview mit Sigmar Gabriel angeheizte Debatte um die Verfassungsmäßigkeit der Mitgliederbefragung findet Mitte-MdB Högl eher künstlich: „Das verstehe ich nicht. Es waren schon immer Parteien, die Koalitionsverträge abgesegnet haben. Und jetzt, wo wir das in einem breiten, demokratischen Prozess tun statt in kleinen Gremien, soll das nicht verfassungsgemäß sein? Ich erlebe stattdessen eine lebendige, offene und kontroverse Diskussion, auch über unsere Partei hinaus. Das belebt unsere Demokratie und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“

Sie selbst warb eindringlich für die Annahme des Vertrages. Direkt nach der Wahl sei sie eindeutig gegen eine Große Koalition gewesen, nach den Verhandlungen und den entsprechenden Beschlüssen habe sich ihre Meinung geändert. Der Vertrag, dessen Aushandlung sie „als keinen Spaß“ schilderte, enthalte mehr, als „man für 25,7 Prozent erwarten dürfe“.

Högl nannte vor allem die Regelungen für den Mindestlohn, nicht nur dessen Einführung von 2015 an, sondern auch die darin liegenden Chancen für weitere Tarifverträge, die Regelungen zum Mieterschutz oder die Vereinbarungen zur abschlagsfreien Rente ab 63.

Anderes Gesellschaftsbild der CDU
Sie ließ aber auch die Bereiche nicht aus, in denen die Ergebnisse durchaus von dem entfernt seien, was Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollten, etwa in der Bildungspolitik, bei der Gleichstellung oder auch in der Integrationspolitik. Aber auch hier seien kleine Schritte vereinbart worden, die einen Einstieg in eine bessere Politik ermöglichen. „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in manchen Fragen die CDU einfach ein komplett anderes Gesellschaftsbild hat“, sagte Högl, warb aber dennoch um Zustimmung zum Gesamtpaket und appellierte an die Mitte-SPD: „Wir brauchen keine Angst zu haben vor der Großen Koalition und sollten selbstbewusst hineingehen.“

Es schloss sich auch in Mitte eine sehr nachdenkliche und ernsthafte Diskussion des Für und Wider an. Einige monierten die Defizite in einzelnen Themenfeldern, andere warnten vor Glaubwürdigkeitsproblemen. Die Fürsprecher erinnerten an die Erwartungen der Menschen, die jetzt auf den Mindestlohn oder die abschlagsfreie Rente warteten. Auch die Alternativen wurden strategisch diskutiert – Neuwahlen seien eher Risiko als Chance und angesichts schwarz-grüner Annäherung sei es wichtig, den Platz der SPD in der deutschen Politik zu behaupten.
Unisono allerdings begrüßten alle die Form der Entscheidung via Mitgliedervotum, schon darin läge eine Chance, anders und offensiv mit der Großen Koalition umzugehen. Die Sachlichkeit und der Ernst der Debatte zeigten, dass Sigmar Gabriels Satz zutrifft, wonach bei dieser Entscheidung alle SPD-Mitglieder die gleiche Verantwortung wie ein Parteivorsitzender hätten.

Bis zum 12. Dezember haben alle SPD-Mitglieder noch Zeit, sich ein Urteil zu bilden, dann wird ausgezählt – eine offene Angelegenheit. Das Votum entscheidet über die Haltung der SPD zum Vertrag, aber Eva Högl ließ keinen Zweifel, dass dieser Entscheid für sie bindend sei und sie sich dadurch keineswegs in ihrer freien Mandatsausübung eingeengt fühle.

Michael Donnermeyer

 
 

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